"Gibt es ein Leben nach Corona?" mag sich der eine oder andere Jugendliche langsam fragen. Nach einem Jahr von Ups und Downs von Lockerungen und Lockdowns rücken die Erinnerungen an früher immer weiter in die Ferne. Das, was früher mal normal gewesen ist, erscheint heute beinah surreal: Festivals, volle Konzertsäle, Partys, Familienfeste, Fernreisen... Hatte es sie je gegeben? Oder entspringen sie bloß unserer Fantasie? Und wie geht es von hier aus weiter?
Man horche in sich hinein. "Schließe ich die Augen, dann sehe ich..." Ja, was eigentlich? Zwei Welten klaffen auseinander: Auf der einen Seite - das Hier und Jetzt, der Lockdown, das Homeschooling, die Pandemie mit all ihren Sorgen, Einschränkungen und offenen Fragen. Auf der anderen Seite - unsere Wünsche und Träume für die Zeit danach. Eine Zeit, in der alles, was jetzt nicht geht, wieder möglich sein wird. Doch wie wird es sein? So wie früher? Ein bisschen anders? Oder komplett unterschiedlich? Und was würde man als erstes unternehmen? Wen würde man treffen, wohin würde man reisen, was würde man nachholen, nachfeiern, nach-erleben wollen?
Draußen alles grau, aber in mir - das Meer.
↑ Nele B, 10c ↓ Frederik H, 10c (Details)
Zu diesen Fragen haben Jugendliche am Ratsgymnasiums Stadthagen im Rahmen eines Homeschooling-Kunstprojekts Selbstportraits gestaltet, die ihre Gefühlslage nach einem Jahr Corona wiedergeben. Dabei probierten sie verschiedene Collage-und Mischtechniken aus, die meisten von ihnen analog. Einige zogen es vor, ihre Fundstücke und Zeichnungen digital zusammenzufügen. So oder so, der inhaltliche Auftrag blieb für alle gleich: Das Portrait und der Hintergrund sollten deutlich voneinander getrennt sein, um den Alltag im Lockdown auf der einen Seite und die eigenen Wünsche und Sehnsüchte auf der anderen Seite abzubilden.
Message in a bottle. Sally B, 9c (Detail)
Es war zwar im Vorfeld klar, dass es sehr persönliche Bilder werden würden. Doch das, was in drei Wochen Bearbeitungszeit letztendlich zustande gekommen war, übertraf bei weitem meine Erwartungen. Kommentarlos ploppten in meinem Mailaccount Bilder auf, die wie eine Flaschenpost ins Leere abgeschickt wurden und doch an der richtigen Adresse ankamen. Schon beim ersten Hinsehen merkte man, wieviel Sehnsucht, Frustration und Hoffnung in diesen Collagen steckte; wie sehr Jugendliche ihre Freunde, Familie und den Austausch in der Schule vermissten; wie stark sie sich eingeschränkt fühlten und wie einsam sie waren. Und bei all dem, wieviel Kraft und Kreativität sie in ihre Kunstprojekte investiert hatten und mit welchem Enthusiasmus sie sich in die Arbeit gestürzt hatten. Beim Sichten dieser Bilder musste ich des Öfteren ergriffen innehalten: Vielleicht, weil ich viele der Jugendliche gut kannte und mir umso besser vorstellen konnte, wie sie sich beim Arbeiten gefühlt haben mussten. Vielleicht berühren diese Bilder aber auch jeden Betrachter.
Im Folgenden werden über 30 Einzelcollagen im Ganzen und noch einige Detailaufnahmen mehr gezeigt. Die meisten Bilder sind zu Galerien zusammengefasst, die sich am Rechner besonders gut durchscrollen lassen. Dazwischen sind Zitate aus Schülerstatements abgedruckt. Alle diese Texte und Fotos stammen von den Schülern selbst und werden hier mit ihrem Einverständnis veröffentlicht.
Als Besucher dieser digitalen Ausstellung könnt ihr zwischen drei Optionen wählen: Wer sich die Collagen-Galerie anschauen möchte, scrollt einfach weiter. Wer sich für die Entstehung und die Auswertung der Bilder interessiert, findet meinen Beitrag dazu im Anschluss an die Bilder-Galerie. Und wer sich selbst an meinem Arbeitsauftrag versuchen möchte, kann ihn hier heruntergeladen:
Möchtet ihr euch selbst an einer erweiterten Collage versuchen? Hier ist der Arbeitsauftrag dazu:
"Dadurch, dass ich bei meinem Bild viel über den Lockdown nachgedacht habe, auch über seine guten Seiten, wie zum Beispiel das gegenseitige Helfen im Homeschooling, die eigene Zeitaufteilung oder die Zeit, die man mit den Geschwistern und der Familie verbringen konnte, ging es mir danach besser, weil ich mich auf die guten Sachen im Jetzt und auf die, die folgen werden, konzentrieren konnte." Lara-Mariella H, 9c
Bildergalerie: "Schließe ich die Augen, dann sehe ich..."
(bitte durchklicken; teilweise mit Vorskizzen)
Sally B, 9c
"Mir fiel es oft schwer, meinem eigenen Umfeld meine Gefühle mitzuteilen, weil ich Angst hatte nicht verstanden zu werden, und ich denke, dass es nicht nur mir so ging. Die Corona-Pandemie hat meiner Meinung nach für uns Jugendliche die meisten Auswirkungen, was nicht oft hervorgebracht wird." Maja G, 8d
Nele B, 10c
"Mir hat dieser Arbeitsaufträge sehr gut gefallen. Ich fand es schön in dieser Zeit auch einmal die positiven Sachen aufs Papier zu zaubern, das hat mich sehr motiviert. Ich würde jedem diesen Arbeitsauftrag empfehlen, um nicht nur an das Negative zu denken." Emma L, 10c
Lynn B, 8d
"Wir müssen heute mit vielen Einschränkungen leben. Diese Einschränkungen habe ich in Form von menschlichen Umrissen dargestellt. Mir ist besonders aufgefallen, dass ich mich eingeschränkt in meiner Freiheit fühle, was die Ketten symbolisieren sollen. Daneben kommen aber auch Wünsche auf, die momentan nicht möglich sind zu erfühlen. Mir fehlt z. B. das Reisen. Ich sehne mich danach, neue Orte zu entdecken und neue Erfahrungen zu machen. Deshalb ist dieser Punkt auch sehr präsent in meiner Collage." Nina ↓
Nina N, 10c
"Bei der Bearbeitung meiner Collage ist mir deutlich geworden, abgesehen von den daraus resultierenden Einschränkungen, dass Corona überwiegend aus Nachrichten (Texten) besteht und somit nicht wirklich sichtbar oder greifbar ist. Auch das mich seitdem begleitende Homeschooling* findet mit erhöhtem Textaufkommen statt. Daher habe ich für den Hintergrund meiner Collage Corona-Texte gewählt." Max H, 8d
* Aus familiären Gründen befindet sich Max seit 10 Monaten im Homeschooling.
Elisa B, 8d
"Über die Collage habe ich mir viele Gedanken gemacht. In ihr ist viel Blau zu finden. Es steht für Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Regeneration. Diese Gefühle sind Teil meiner Vorstellung eines Lebens, wenn kein Virus mehr da ist. Dazu der großen Schriftzug „Freedom“. Er bedeutet mir sehr viel, da er nicht nur nach dem Lockdown, sondern auch generell eine große Rolle spielen sollte. Freies Atmen, mit Freunden treffen, Hochzeiten, Konfirmationen, Geburtstage feiern, etc.. Alles führt auf die Freiheit zurück, die wir vor mehr als einem Jahr (mehr oder weniger) verloren haben." Lara-Mariella ↓
Lara-Mariella H, 9c
"Ich habe viele andere, vor allem Familienmitglieder, gefragt, was sie gerne machen würden, wenn der Lockdown vorbei ist. Ich wollte damit erreichen, dass nicht nur meine Empfindungen in der Collage zu sehen sind. Genau das ist auch das, was ich an meinem Bild besonders mag. Es ist nicht nur mein Bild. Die Gedanken vieler anderer, die mir wichtig sind, sind in dem Bild mit verarbeitet worden." Lara-Mariella ↑
Stella L, 9c
Die einen so:
"Als wir die Kunstaufgabe bekommen hatten, ging ich diese an wie jede andere, doch wie ich später bemerkte, hatte diese Kunstaufgabe eine besondere Bedeutung für mich und sicherlich auch für viele andere. Die Vorskizze war schnell gezeichnet und ich begann mich aufs Collagieren vorzubereiten. Vor allem, als ich die Zeitungsausschnitte und Bildchen raussuchte, wurde mir bewusst, wie sehr mir alles fehlte, die Leichtigkeit und Möglichkeiten, die es vorher gegeben hatte, Vergnügen, Gelassenheit, wie einfach es war und wie wenig ich es geschätzt hatte. Als ich die Bildchen dann auf der Vorskizze sortierte und zurechtlegte, sortierte ich auch meine Gedanken und Sachen, die ich in der Corona-Zeit hinter mir gelassen und verdrängt hatte. Natürlich wurden mir auch die positiven Sachen bewusst, wie die hohe Hilfsbereitschaft oder Anerkennung und Dankbarkeit für die, die vorher im Hintergrund waren und wichtige Arbeiten leisten. Aus der schlechten Zeit heraus sah ich positiv auf die schönen Seiten von vorher zurück und beschloss, die kommende Zeit, egal wie sie werden wird, mehr auszunutzen, zu schätzen und zu genießen, auch neue Erinnerungen zu schaffen, in doch so einer hoffnungslosen, bedrückenden Zeit voller Erschütterungen und Sorgen." Elisa B, 8d
Und die anderen so:
"Ich habe nur das Positive dargestellt, weil ich durch Corona nur positive Sachen habe! Es gibt nichts Negatives oder irgendetwas, was ich sonst machen würde und jetzt nicht machen kann." Nico K, 8c
Und es geht noch mehr: Collagen-Galerie
(bitte durchklicken)
Lale S, Felix B, Max H, Alexia D, Maja G, Lennard R, Emma F, 8d; Emil S, Angelina B, Zoe W, 8c; Ella T, 9c; Stina H, Emma N, Ricarda B, Lara H-H, Anny H, Leni T, 10c; Joshua H, Alexandra S, Lena K, Fabio S, Carolina W, 10d
"Da ich gern reise und Reisen für mich Freiheit bedeutet, ist dies für mich zentrales Thema des Innenlebens. Auch der Wiederaufnahme meiner Hobbys, wie insb. Kartfahren und Fußballspielen, sehe ich mit großer Freude entgegen. Die Geburtstagsfeier steht für alle sozialen Bedürfnisse, wie das Feiern mit Freunden und Familie im großen Kreis sowie die Wiederaufnahme von Kontakten einzelner Freundschaften, die im letzten Jahr nicht stattfinden konnten. Mir gefällt die freundliche bunte Gestaltung innerhalb meines Portraits am besten.“ Max H, 8d
...und als Zugabe: digitale Collagen
Frederik H, 10c; Sophi W, 8d; Rebin M, 10c (teils mit analogen Vorskizzen)
Eine erweiterte Collage: Projektbeschreibung
Um inhaltlich wie visuell am Tagesgeschehen anzuknüpfen, bot sich das Thema Collage an. Die Ausgangslage war günstig: Selten zuvor hatten Medien so geschlossen um ein und dasselbe Thema gekreist wie gerade. Corona, Corona, Corona: Die Zeitungen berichteten seit Monaten von nichts anderem. "Infektionszahlen", "Hotspots", "Risikogebiete", "Ausgangssperren" und "Durchseuchung" - Begriffe, die man bis dahin nur aus Dystopien und Katastrophenfilmen kannte, bestimmten auf einmal unseren Alltag. Nun, zumindest mangelte es nicht am passenden Collage-Material.
↑ Elisa B, 8d ↓ Lara-Mariella H, 9c (Detail)
Trotz thematischer Gleichförmigkeit konnten Schüler ihre individuellen Schwerpunkte setzen, indem sie ganz bestimmte Schlagzeilen für ihre Bilder heraussuchten. Während die einen sich mit Krankheitsverläufen, gefährlichen Mutanten und Impfstoffen beschäftigten, sorgten sich die andere um soziale und psychologische Langzeitfolgen der Krise: "Angststörungen nehmen zu," lauteten da die ausgewählten Schlagzeilen, "Pandemie vergrößert Sorgen und Nöte der Jugendlichen", "Kündigung", "Depressionen", "Familien zerbrechen"... Auch Naturschutz und Ausländerfeindlichkeit waren weiterhin wichtig. Und schließlich fragten sich viele, wie und vor allem wann es zurück zur Normalität gehen würde. Doch auf ihre handschriftlich verfassten Fragen "Wann ist es vorbei?" "Ende? Wo?" lauteten die ausweichenden Antworten aus der Presse: "Abwarten." "Schauen wir mal..."
Hier und Jetzt: Details zum Durchklicken
Handwerkliche Umsetzung: Mischtechnik
Während die Aufgabe inhaltlich recht offen formuliert war, gab es auf der handwerklichen Ebene klare Vorgaben. Es sollte eine erweiterte Collage werden, bei welcher geklebte Fundstücke mit verschiedenen Mal- und Zeichentechniken kombiniert werden sollten. So konnte das Dokumentarische einer Collage mit dem Individuell-Experimentellen eines Gemäldes verknüpft werden. Außerdem bekamen dadurch die überwiegend schwarz-weiß gehaltenen Collagen eine farbige, atmosphärische und somit emotionale Wirkung - gerade beim Thema Wünsche und Träume substanziell.
Alles eine Frage der Haptik: Maja G, 8d
Dabei fiel mir eine interessante Konstante auf: Jüngere Schüler (8. Klassen) waren beim Malen experimentierfreudiger vorgegangen als ihre älteren Mitschüler (9. und 10. Klassen). Leztere hatten ihren Fokus verstärkt auf das Inhaltliche und die Schrift gelenkt. Deswegen erinnerten ihre Collagen an aufwendig gestaltete Mindmaps und wirkten zuweilen weniger emotional. Ich fragte mich, ob dieser Unterschied altersbedingt war, oder ob er daraus resultierte, dass der 8. Jahrgang aus sogenannten iPad-Klassen bestand, welche schon seit der 7. überwiegend digital unterrichtet wurden, auch im Fach Kunst. Vielleicht vermissten die iPad-Klassen verstärkt das Haptische? Jedenfalls schien sie das Thema Mischtechniken in einen regelrechten Materialrausch versetzt zu haben: Es wurde gespachtelt, übermalt, verblendet und aquarelliert, was das heimische Equipment nur hergab.
Schönes und Hoffnungsvolles: Details zum Durchklicken