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AutorenbildKatia Tangian

Big in Japan: die japanische Brücke

Aktualisiert: 6. Sept. 2022


Brücken verbinden - nicht immer nur zwei Ufer, sondern manchmal auch Länder oder ganze Kontinente. Gelegentlich können auch unterschiedliche Kulturen über eine Brücke zusammenfinden. So geschehen in meiner 11. Klasse, die über die traditionelle japanische Rundbrücke den Einstieg in die japanische Ästhetik fand. Doch der Reihe nach: Als sich im Februar 2022 die Frage stellte, welches Thema wir im Unterricht als nächstes behandeln wollen, wünschten sich die Jugendlichen etwas Plastisches. Im Homeschooling hatten sie monatelang am Bildschirm gesessen, im Kunstunterricht davor und danach überwiegend gemalt und gezeichnet. Nun wollten sie endlich etwas Räumliches, ganz und gar Analoges gestalten. Aber was sollte es werden? Modellbau vielleicht? Oder doch lieber Kleinplastik? Und womit sollten sie arbeiten? Schere? Stein? Papier?


Oben: Ricarda B.; unten: Klara K. (Details)




Schließlich einigte man sich auf ein Thema, das alle Schülervorschläge zu vereinen schien: Modellbau sollte es werden, wide wide world im Kleinformat, alle Materialien waren zulässig, kein Wunsch musste unerfüllt bleiben. Doch während die meisten Jugendlichen unter Modellbau etwas Architektonisches verstanden (und sich dabei gedanklich irgendwo zwischen der Modelleisenbahn und "Mein Traumhaus im Schuhkarton" einpendelten), schwante mir gedanklich Größeres. Oder vielmehr Breiteres, wie vor ein paar Jahren, als uns das Zentralabitur das Thema "Platzgestaltung" beschert hatte. Nach anfänglicher Skepsis hatten mein Leistungskurs und ich überraschend Gefallen an der (Um-)Gestaltung öffentlicher Plätze gefunden. Im Gegensatz zu klassischen Architekturmodellen musste man hier nicht nur um die Ecke, sondern auch in die Breite denken und architektonische und landschaftliche Elemente zu einem harmonischen Ganzen verknüpfen.

Oben: Yara N. und Carolina W.;

unten: Lara H.-H. und Leni T. (Details)

Einige Elftklässler konnten sich noch gut an die damalige Ausstellung der Platz-Modelle erinnern. Alle anderen konnte ich zumindest online auf dieses Projekt verweisen, hatte ich es doch seinerzeit ausführlich dokumentiert. Unter dem Link "Was alles möglich ist..." war der Blogbeitrag dazu weiterhin abrufbar. Ein Hoch auf die Digitalisierung, die bei allen ihren Risiken und Nebenwirkungen den Informationsfluss extrem erleichtert!

Nach der Vorbesprechung im Plenum waren wir uns schnell einig: Das aktuelle Projekt sollte keine Neuauflage des alten werden. Vielmehr wollten wir diesmal den Blick weit über den Tellerrand werfen und schauen, wie das Thema Landschaftsbau außerhalb von Europa behandelt wurde. Gerade weil Kunstunterricht in der Regel sehr europazentriert ausfällt, schlug ich einen Kurswechsel vor: Unsere Kunstreise sollte uns zumindest virtuell ans andere Ende der Welt führen, vom altbekannten Abendland in das ferne Land der aufgehenden Sonne.


 

1. Didaktischer Kontext


Exotismus


Während die abendländische Künstlerausbildung seit der Antike immer stärker akademisiert und standardisiert wird, rebellieren viele Künstler gegen dieses rigide Regel-Korsett. Auf der Suche nach neuen Impulsen bereisen sie ferne Länder, studieren deren Kunst und Kultur und lassen diese Impulse in ihre Werke einfließen. Seit dem späten 17. Jahrhundert jagt in Europa ein Exotismus-Trend den nächsten, was nicht nur die bildenden Künste, sondern auch Architektur, Mode und Produktdesign betrifft. Chinoiserie, Orientalismus, Japonismus, Primitivismus: Sie alle sind als Reaktion auf die gleichförmige Salonkunst zu verstehen und verhelfen ihren Zeitgenossen zu Tagträumen und kleinen Alltagsfluchten. 

Dieser Exotismus-Kult wird heute durchaus kritisch gesehen, weil er nur selten zu einem tieferen Verständnis fremder Kulturen beigetragen hat, sondern sich in der Regel in einer oberflächlichen Übernahme motivischer und stilistischer Merkmale erschöpft hat. Andererseits ist er als Kind seiner Zeit zu betrachten: Man könnte ihn auch als einen etwas naiven Ausdruck von Theatralik, Fernweh oder Eskapismus verstehen.

Oben: Luisa Sophie B. (Detail); unten: Utagawa Kuniyoshi: Ushiwaka und Benkei kämpfen auf Gojo-Brücke, 1839


Japonismus

Unter Japonismus versteht man den Einfluss japanischer Kunst auf europäisch geschulte Künstler. Diese Tradition geht auf die Öffnung Japans im Jahr 1867 zurück, als der Inselstaat seine 200 Jahre währende Isolationspolitik aufgab und sich für Handelsgeschäfte mit den westlichen Ländern öffnete. Seitdem strömen nicht nur japanische Waren, sondern auch Kunstwerke nach Europa. Von deren eigenwilligen Kompositionen, Farben und Motiven lassen sich seitdem zahlreiche europäische Künstler inspirieren. Dazu gehört auch Vincent van Gogh, der wie viele seine Zeitgenossen Ukiyo-E-Holzschnitte sammelte und sie zu Studienzwecken kopierte, so etwa Hiroshiges „Die Brücke bei Regen“.
Der französische Impressionist Claude Monet ging noch einen Schritt weiter: Er ließ in seinem Garten in Giverny eine eigene Brücke nach dem japanischen Vorbild bauen, um sie zu allen Tages- und Jahreszeiten und aus allen erdenklichen Blickwinkeln zu studieren (Abbildungen s. unten).
 

Bis heute fasziniert das formal eher schlichte Motiv der japanischen Brücke die Künstler weltweit, und dies auf mehreren Ebenen: Zum einen hat sie einen starken Wiedererkennungswert und steht stellvertretend für die lakonische Formsprache Japans. Zum anderen erzeugt ihre schlichte Bogensilhouette einen spannungsvollen Form- und Richtungskontrast zu den Horizontalen einer Landschaft und zu den vielen Vertikalen ihrer senkrecht wachsenden Vegetation.


Und auch die von ihr ausgehenden Bewegungsachsen sorgen für Spannung: Unter der Brücke fließt das Wasser; Menschen und Fahrzeuge überqueren sie, indem sie sich gegenläufig und im rechten Winkel zum Wasserlauf bewegen; währenddessen wechseln sich Tages- und Jahreszeiten zyklisch ab. In diesem symbolhaften Brückenbild ist alles im Fluss, alles im ständigen Wandel. Nur die kleine rote Brücke sorgt darin für Halt und Kontinuität. 

Claude Monet vor seiner japanischen Brücke in Giverny, ca. 1917, Foto @ Étienne Clémentel; Claude Monet: Die japanische Brücke, um 1899, National Gallery, London; Utagawa Hiroshige: Regenschauer über der großen Brücke in Atake, Holzschnitt, 1857; Vincent van Gogh: Die Brücke im Regen (nach Hiroshige), 1887, Van Gogh Museum, Amsterdam



Der japanische Garten

Neben japanischer Kunst erfreut sich auch die japanische Gartenkultur weltweit einer großen Beliebtheit. Der japanische Garten stellt eine idealisierte Landschaft im Kleinformat dar, wobei er nicht nur dem ästhetischen Genuss dient, sondern eine ganze Lebensphilosophie visualisiert. Im Sinne des Feng Shui (Harmonisierung von Mensch und seiner Umgebung) werden hier die Gegensätze Yin und Yang sichtbar und erlebbar gemacht: Das Feste und das Fließende, das Bleibende und das Vergehende, alle Formen und Materialien werden sorgfältig ausgewählt, bewusst platziert und in Beziehung zueinander gebracht. Drei Schlüsselelemente stehen dabei im Fokus: Wasser, Pflanzen und Stein. 

Der Brücke kommt dabei eine besondere Funktion zu. Einerseits verbindet sie zwei Ufer miteinander; die positive Energie, das Chi, kann dadurch ungehindert im ganzen Garten zirkulieren. Andererseits symbolisiert der Akt des Überquerens in den beiden großen japanischen Religionen Buddhismus und Shintoismus den Übergang von einem Lebensbereich in den nächsten: "So können Körper und Geist mit einem Kapitel abschließen, um sich einem neuen zu widmen. Dabei ist es wichtig, wo man hinsieht. Richtet man den Blick in die Richtung, in die das Wasser fließt, schaut man der Zukunft entgegen, während der Blick in die andere Richtung Traditionsverbundenheit ausdrückt"*. 


Oben: Der japanische Hill-and-Pond Garden, New York, Foto @ Betty Crocker; unten: Katsura Imperial Villa and Gardens, Kyoto, Foto @ np&djjewell


 


2. Praktische Umsetzung


Wie gern würde ich nun berichten, dass wir erst den japanischen Holzschnitt studiert, uns in die fernöstliche Ästhetik eingelesen haben und dann, rundum gebildet und geläutert, zur Tat geschritten sind! Doch das wäre gelogen. In Wirklichkeit brach gleich beim Wort "Modellbau" das absolute Chaos aus. Die Schüler wollten nichts mehr hören und erst recht nichts mehr lesen, sie wollten auf der Stelle loslegen und "endlich etwas bauen". Zur nächsten Stunde schleppten sie schon fertige Modellfragmente an - außerdem Holzplatten, Handsägen, Drahtrollen, Gipssäcke und Akkubohrer, denn die Kunststunde war knapp und musste optimal genutzt werden. Man freute sich schon die ganze Woche darauf, endlich etwas "selbst zu machen," mit eigenen Händen. Eigentlich schön.



Zum Vergrößern bitte draufklicken



So ganz ohne Plan sollte es aber trotzdem nicht ablaufen. Zum Glück hat eine Kunstlehrerin so ihre Tricks, um den Arbeitsprozess zu steuern, ohne ihn auszubremsen. Gleich in der zweiten Doppelstunde sollten Kompositionsskizzen und stichpunktartige Konzepte angefertigt werden: Schließich wollte ein Projekt dieser Größe gut dokumentiert sein!

Diese eingeschobene Dokumentation tat das, was sie tun sollte: Sie brachte Schüler zum Nachdenken. Während beim ersten Brainstorming das eingängige Motiv der Brücke im Vordergrund stand, rückte nun die umgebende Landschaft in den Fokus, hatte sie doch eine Brücke überhaupt erst erforderlich gemacht. Jeder Schüler sollte sich daher fragen: Was genau soll meine Brücke verbinden? Zwei Flussufer vielleicht? Oder zwei Felsen? Führt sie Nachbarn, Freunde oder Liebende zusammen? Oder vereint sie auf einer metaphorischen Ebene zwei unterschiedliche Welten miteinander, Gegensätze wie Yin und Yang, Schwarz und Weiß, Leben und Tod, Gut und Böse?




Skizzen und Konzepte. Zum Durchscrollen rechts klicken; zum Vergrößern anklicken.


Im nächsten Schritt sollte geklärt werden, wie diese Ideen visualisiert werden konnten. Dazu sollten einerseits die angefertigten Skizzen beitragen, andererseits Internetrecherche, eigene Materialversuche und Austausch mit Mitschülern. Zu Beginn jeder Stunde, gleich nach der Begrüßung, versuchte ich die Ruhe vor dem Sturm zu nutzen und den didaktischen Kontext häppchenweise nachzureichen. Eigentlich hatte ich ihn für die Einführungsstunde vorgesehen, aber aus gegebenem Anlass war er vollkommen untergegangen. "Weniger ist mehr," schrie ich gegen das fröhliche Hämmern, Sägen und Schleifen an. "Sucht nach Inspiration im Internet ... kontrastreiche Farben ... verschiedene Oberflächen ... matt, glänzend, glatt, rau ... Formkontraste ... Ach, ihr macht es schon!"


Und sie machten es tatsächlich. Obwohl es mir bis zum Schluss schleierhaft blieb, wie sie aus meinen hineingerufenen Arbeitsaufträgen und versprenkelten Infos die gestrengen Prinzipien der japanischen Ästhetik destillieren konnten, belegen ihre fertigen Modelle, dass die Message ihre Adressaten erreicht hatte. Überrascht erkannte ich beim Sichten der Ergebnisse, dass sie nicht nur meiner Aufgabenstellung entsprachen, sondern auch noch Japan-Bezüge enthielten, die im Unterricht gar nicht thematisiert wurden: Shintō-Schreine, Steinlaternen, Pagode-Tempel, Origami, Kalligraphie waren plötzlich einfach da. Mein persönliches Fazit daraus: Unterschätze niemals die intrinsische Motivation der Schüler - und die Macht der Internetrecherche.




Arbeitsauftrag in Stichpunkten


Allgemein
• statt naturalistischer Modelleisenbahn-Optik Ästhetik der Askese: reduzierte Anzahl von Farben, Formen und Materialien
• abstrahierte Landschaft mit einer oder mehreren roten Rundbrücken (je nachdem, ob in Einzel- oder Gruppenarbeit konzipiert) -> roter Faden des Projekts

Handwerkliche UmsetzungMaterialgerechtheit: entweder unbehandelte Oberflächen, welche die Materialbeschaffenheit offenbaren (sichtbare Holzmaserung; braune Wellpappe ...) oder optisch überarbeitete und vereinheitlichte Oberflächen, sodass der Übergang von einem Material zum anderen nicht mehr erkennbar ist (einfarbig gesprühte, mit Papier beklebte Materialien...)
• maximale Oberflächenkontraste: glatt / rau, matt / glänzend ... 
• reduzierte, aber kontrastreiche Farbpalette (z. B. Schwarz, Weiß, Rot ...)
• präzise Verarbeitung: sauber zugeschnittene und montierte Elemente; einheitlich verarbeitete Oberflächen; filigrane Details, ... 

Brücke als Metapher für...Werden und Vergehen (Tageszeiten, Jahreszeiten: Herbstlaub / Schnee / Kirschblüte ...): Brücke als metaphorischer Übergang von einem Zustand in einen anderen  
• Gegensätze (Himmel und Hölle, Wasser und Erde, Mann und Frau ...): Brücke als metaphorische Verbindung von zwei sich ergänzenden Gegenpolen wie Yin und Yang ...

Hannes W., poisened by the lies - and the plaster


 

3. Das finale Ergebnis


Während das Brückenmotiv denkbar schlicht ist, lenken handwerkliche Raffinessen den Blick ­aufs Detail: Perlen, die auf Draht aufgefädelt und zu Kirschblüten geformt sind; Papierstreifen, die zu Balken zusammengerollt, Zahnstocher, die zu Wegen montiert oder Eisstiele, die zu Sitzbänken umfunktioniert sind … Nach dem Tiffany-Prinzip ließ Yasmin K. Nagellack in Metallösen ein, um daraus Herbstblätter zu formen; Anny H. und Lilly V. fluteten ihr Modell mit Kunstharz und erstellten so ein authentisch schimmerndes Flussbett.

Kunstrasen, Draht, ganze Pappmaché-Landschaften wurden einfarbig ausgesprüht, um dem gewählten Farbkonzept treu zu bleiben. Wochenlang wurde in den Kunsträumen des Ratsgymnasiums gesägt, gefräst, gestrichen, geknetet und genagelt. Für ein minimalistisches Erscheinungsbild wurden Berge an Materialien und Werkzeug verschlissen. Wer hätte gedacht, dass man den Spruch „Weniger ist mehr“ auch wörtlich nehmen kann!




"Die japanische Kirschblüte steht für die Vergänglichkeit, aber ebenso für den Aufbruch. Man sollte seinen Weg immer weitergehen und nicht stehen bleiben, auch wenn etwas Schönes währenddessen vergeht. Denn genau wie die Kirschblüte kommt etwas Schönes immer wieder, genau wie die Blüte jedes Jahr im Frühling immer wiederkommt." Ricarda B.

 


3.1. Himmel und Erde: Paararbeit von Stina H. und Nina N.




3.2. Die Überfahrt: Klara K.




3.3. Durch die Zeit: Gruppenarbeit von Yasmin K., Ricarda B. und Alina H.