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Do it like David Hockney: Joiner

Aktualisiert: 10. Sept. 2021


"Ich ist ein Anderer," schreibt 1870 der französische Dichter Arthur Rimbaud. Damit verweist er auf das Fragmentarische und Widersprüchliche in jedem von uns. Kennt man sich jemals wirklich? Gibt es ein konsistentes Ich? Erfinden wir uns nicht vielmehr jeden Tag neu? Zahlreiche Autoren und bildende Künstler befassen sich in ihren Werken mit dem diffusen, ungreifbaren, sich im ständigen Wandel befindliche Ich. So auch der Künstler David Hockney.


Hauke B. (Detail) ist ein Anderer - vielleicht ein Zyklop.


Didaktischer Hintergrund

Der Brite David Hockney (*1937) wurde in den 1970er Jahren mit grellen, poppigen Gemälden bekannt, die für gewöhnlich im Pop Art-Spektrum verortet werden. Weniger bekannt ist dagegen, dass der klassisch ausgebildete Maler als einer der Pioniere von digital painting gilt, und dass er auch mit anderen Medien, darunter Fotografie experimentiert hat. 
Dabei hat er eine Methode entwickelt, die dem flüchtigen Schnappschuss-Charakter der Fotografie entgegenwirken soll: Hockney fotografiert über einen längeren Zeitraum ein und dasselbe Motiv, macht Detailaufnahmen, verändert den Aufnahmewinkel, zoomt heran, geht in die Totale... Anschließend setzt er aus diesen Fotos ein neues Bild zusammen.  Damit reiht er sich in die Tradition des Simultanbildnisses ein, das spätestens seit dem Mittelalter Verbreitung findet und auf dem verschiedene Stationen einer Handlung gleichzeitig (also simultan) dargestellt werden, zu beobachten beispielsweise auf den Passion Christi-Bildnissen. 
In Abgrenzung zur klassischen Collage (coller, fr. = kleben) führt Hockney für seine Methode den Begriff Joiner ein (to join, engl. = zusammenfügen): Hierbei geht es weniger um die Technik, als vielmehr um die Anordnung der einzelnen Collageelemente. Anfangs ordnet Hockney seine quadratischen Polaroids mosaikartig an (s. unten). Bei seinen späteren Joinern (s. oben) legt er unterschiedlich große Fotoabzüge asymmetrisch und schräg übereinander, was raumschaffend und verfremdend zugleich wirkt. Bei unserem Joiner-Projekt, das im Folgenden näher erläutert wird, haben wir uns auf die zweite Joiner-Variante bezogen.

David Hockney: Jerry Diving Sunday Feb. 28th 1982, Composite Polaroid @ Richard Schmid


Während über Hockneys Joiner Dokumentarfilme gedreht werden (oben; Video unten), tauchen Joiner-Motive in Spielfilmen auf. Unten z. B. in "Nerve" (2016); Danke, Helena, für den Hinweis


 

Joiner-Projekt

David Hockney beim Arbeiten an einer Joiner-Collage im National Museum of Photography, Film & Television, United Kingdom, 01.07.1985, SSPL / Getty


Marc B.: ein Fenster zum Hof (Detail)

Hockneys Joiner-Prinzip wird heute derart oft nachgeahmt und plagiiert, dass man bei einer Google-Recherche kaum Original-Joiner von ihm findet: Sie werden von seinen Nachahmern verdrängt, welche sich Hockneys Idee bedienen und damit in Massenproduktion gehen. "Ich bin ein Anderer," scheinen sie alle sagen zu wollen. "Vielleicht ein Hockney."


"Na gut, dann sind wir eben auch Hockney," habe ich für meinen 13er Kunst-Grundkurs kurzerhand entschieden. Ich musste schnell handeln: Eigentlich wollten wir gerade mit den Drucktechniken à la Warhol beginnen, als Schnee und Eis die 13er für eine Woche ins Homeschooling katapultierten, und zwar ganz ohne Corona. So war mitten im Schneechaos die Idee geboren, David Hockney als eine weitere Pop Art-Position zu ergründen und seine Joiner-Collagen auf ihre Homeschooling-Tauglichkeit zu testen.

Nasreen J.: Ich knete, also bin ich.

Die Voraussetzungen dafür waren günstig. Dank Schnee gab es viele spannende Fotomotive direkt vor der Haustür - und dank Homeschooling die nötige Zeit, um sich mit seiner (Handy-)Camera und Bildbearbeitungsprogrammen auseinanderzusetzen. Als klarer Favorit unserer Software-Recherche hat sich überraschenderweise Powerpoint behaupten können: Das Programm ist weit verbreitet, bedienerfreundlich und selbsterklärend; Bilder lassen sich darin mit einem Klick hochladen, größer und kleiner ziehen, hin- und herschieben, überlappen, zurechtschneiden, nachbearbeiten... Anschließend kann man das PPT-Dokument schnell in ein PDF oder JPG konvertieren. Besser geht es also kaum. Nur bei der Bildqualität lässt PPT zu wünschen übrig: Die Auflösung reicht gerade mal für einen postkartengroßen Fotoabzug, Din A4-Formate fallen dagegen extrem pixelig aus.


Jordis W., Helena B., Diyar G., Dilara K., Jan K., Marc B., Hauke B. und Jona O.

 

Joiner: Arbeitsauftrag


Falls auch ihr ein Joiner-Bild gestalten möchtet: Hier ist mein Arbeitsauftrag dazu.

Do It Like Hockney: Joiner-Bilder (mit Homeschooling-Prädikat)

1. Betrachtet David Hockneys Joiner und reflektiert ihre Machweise und Wirkung.

2. Legt euch auf ein alltägliches Motiv aus eurem unmittelbaren Umfeld fest und fotografiert es aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Entfernungen. Es kann ein (Selbst-)Portrait, aber auch ein Stillleben oder eine Landschaftsaufnahme sein.
Tipp: Besonders dynamisch wirkt eine Fotostrecke, wenn sie eine (nicht allzu schnelle) Bewegung dokumentiert, etwa einen Hund, der sich die Schnauze leckt oder eine Kaugummiblase, die langsam größer wird. 

3. Fügt eure Einzelbilder am Rechner zu einer Collage zusammen; mit Powerpoint geht es am schnellsten. Die Einzelbilder sollen dabei unterschiedlich groß sein, sich überlappen und evtl. auch schräg angeordnet werden, um das Prinzip der Collage erkennbar zu machen. Nach außen hin darf die Collage ausfransen und asymmetrisch bleiben.

4. Anschließend sollt ihr eure Bilder im Plenum vorstellen. Wie seid ihr vorgegangen? Welche kompositionellen Entscheidungen habt ihr getroffen? Was hat sich als schwierig herausgestellt? Was hat euch überrascht? Und wodurch unterscheidet sich eure Joiner-Collagen von den Fotos, die ihr für gewöhnlich schießt?

Viel Spaß beim Fotografieren, Anordnen und Diskutieren!

Noch Fragen? Eine alternative Einführung in die Joiner-Methode findet ihr - in Englisch und reich bebildert - unter anderem hier.

Oben: David Hockney, 1978 © Michael Childers / Corbis via Getty Images

Unten: David Hockney im Interview zu seinen Joiner-Collagen, 2:23 Min

Die vollständige Dokumentation mit dem langen Hockney-Interview (25:09 Min), aus dem der Auszug oben stammt, findet ihr hier.

 

Joiner-Experience: Reflexion


David Hockney: Selbstportrait

Zu Hockneys Methode hat ein Schüler des Kurses, Marc B., spontan einen Erklärungstext verfasst:


"In David Hockneys Joiner-Fotocollagen werden viele Bilder aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zusammengestellt, um das eigentliche Motiv abzubilden. Dabei wird jedoch das Motiv verzerrt dargestellt (...). Hockney selbst wollte ein lebendiges, nicht statisches Bild erstellen, um damit Kunst zu erschaffen, was laut ihm mit einem Foto nicht möglich wäre, trotz perfekter Bildkomposition und Beleuchtung. Schließlich wird ein Foto typischerweise in unter einer Sekunde aufgenommen und besitzt damit keine Dynamik." 

Jona O.: Erkenne dich selbst - oder auch nicht.

Anders verhält es sich beim Joiner: Weil er verschiedene Handlungssequenzen aus unterschiedlichen Perspektiven wiedergibt, wirkt er lebendig und bewegt. Damit stellt er eine Schnittstelle zwischen der Bildenden Kunst und dem Film dar - im Unterschied zur klassischen Fotografie. Diese vergleicht Hockney mit einem "paralysierten Zyklopen," dessen Wahrnehmung zeitlich wie räumlich auf ein Minimum begrenzt ist:


"Photography is all right if you don’t mind looking at the world from the point of view of a paralysed cyclops - for a split second. " David Hockney

 

Umsetzung

Paul S.: "Ich denke, also bin ich... wer eigentlich?"

Das Ablichten eines Motivs aus verschiedenen Entfernungen und Perspektiven hat sich in der Praxis als unerwartet zeitintensiv erwiesen. Einige Schüler haben mehrere Anläufe gebraucht, bis die Methode stimmte. Aus diesem Grund haben wir nicht wie geplant eine (Homeschooling-) Doppelstunde damit zugebracht, sondern noch zwei weitere angehängt.

Eine weitere Komplikation stellte die Wahl des Motivs dar. Im häuslichen Umfeld hatte sich das Thema Selbstportrait angeboten, weil es dort kaum andere spannende Motive gab - und wenn doch, dann wollten sie nicht so richtig mitmachen:


"Meine Familie hat sich leider geweigert, mein Motiv zu werden," klagte eine Schülerin per Mail, "und meine Haustiere alleine haben nicht die gewünschte Vielfalt an Posen vor identischen Hintergründen eingenommen." 

Also hatte sie sich selbst fotografieren müssen. Im Nachhinein war ihr jedoch das aufwendige Photoshooting um sich herum manisch und narzisstisch erschienen, so dass sie mich gebeten hatte, ihre hervorragend gelungenen Selbstportraits nicht zu veröffentlichen, "da diese Kunstprojekte ein wenig selbstverliebt wirken könnten."


Michelle D. ist eine ganz Andere: ohne Maske!

Doch die meisten Schüler hatten mit dem Thema Selbstportrait kein Problem: Zum einen, weil sie mit Social Media und Selfies aufgewachsen waren und sich mit dem Konzept der Selbstinszenierung bestens auskannten. Zum anderen, weil sie sich in diesen stark fragmentierten Bildern kaum wiedererkannten. Wie im Theater griff dabei der Rollenschutz: Je fremder sie sich selbst vorkamen, desto sicherer fühlten sie sich in ihrer Rolle. Der Eingangssatz von Rimbaud konnte nun um eine Facette erweitert werden: "Ich ist ein Anderer - und das ist auch gut so".

Auch mir als Lehrenden hatten diese Selbstportraits eine unerwartete Dimension eröffnet: Beim Sichten der Bilder konnte ich sie anfangs nur schwer zuordnen - bis mir bewusst wurde, dass ich einige der abgebildeten Schüler noch nie zuvor ohne Maske gesehen hatte. Eigentlich traurig. Dank Hockney konnte ich mit einem Mal in ihre unmaskierten Gesichter schauen: "Ich bin ein Anderer - ohne Maske." Zumindest auf dem Bildschirm ging es ja.


Elisa B.: "Bin ich Kerberos- und wenn ja, wie viele?"

Im Übrigen war niemand dazu verpflichtet, ein Selbstportrait zu gestalten. Vielmehr stand die Motivwahl von vorneherein offen, schließlich hatte auch Hockney nicht nur (Selbst-)Potraits, sondern auch Landschaften, Interieurs und Stillleben als Joiner komponiert.

Deswegen haben einige Schüler ihre Haustiere, andere ihre Grünpflanzen abgelichtet. Wieder andere hatten genug "fertige" Bilder da, um ganz ohne Kamera eine Joiner-Collage zu erstellen. So hatte Laura in ihrem letzten Urlaub so viele Fotos von einem spanischen Hafen geschossen, dass sie trotz Corona und Reiseverbot einen fernwehträchtigen Urlaubs-Joiner zusammenpuzzlen konnte (s. unten). Das wird ihr keiner so schnell nachmachen können!

 

Fazit


Auf den Spuren von Hockney haben Schüler zuhause etwas Alltägliches als abbildungswürdig definiert, es kaleidoskopartig in Fragmente zerlegt und zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Trotz vermeintlicher Objektivität ihrer Fotos wirken die daraus entstandenen Joiner befremdlich surreal. "Ich ist ein Anderer": Ohne viel technisches Tamtam und handwerkliches Knowhow konnten Schüler dank Hockney den schöpferischen Akt eines bildenden Künstlers nachempfinden, indem sie eine Alltagsszene herauspickten und sie in etwas Außergewöhnliches verwandelten. Diese Erfahrung kann sowohl für einen angehenden Künstler als auch für einen künftigen Kunst-Enthusiasten durchaus prägend, vielleicht sogar weichenstellend sein: ein Lernziel, das sicher auch Hockney gefallen hätte.


Laura N.: Homeschooling meets Urlaubsfeeling




Weiterführende Texte und Links:

1. Dreher, Thomas: David Hockney - Photocollagen. In: Das Kunstwerk, März 1989, S. 95

2. Hockney-Foundation (englisch) unter www.thedavidhockneyfoundation.org 

3. eine übersichtlich zusammengestellte Bildersammlung zu Hockney mit einem französischen Begleittext unter culturieuse.blog 

4. Michalska, Magda: David Hockney and The Camera: A Composite Polaroid Reality. In: Daily Art Magazine, 21.11.2018

4. Scheff, David: David Hockney, modern art master, paints the good life. Interview in: Rolling Stones, 13.12.1990

4. Ebenfalls lesenswert (auch wenn ein wenig off-topic): das für Kinder ab 8 Jahre empfohlene Buch "Die Welt der Bilder für Kinder" (Midas Verlag, 2020, 128 Seiten): "Aufbauend  auf dem gleichnamigen Bestseller für Erwachsene findet sich hier ein  äußerst unterhaltsames Gespräch des Autors Martin Gayford mit dem  Künstler David Hockney. Beide verstehen es, in ihrem unvergleichlich  einfachen, klaren und dennoch kompetenten Stil zu unterhalten. Die Illustrationen von Rose Blake untermalen die Erzählungen der Autoren, um  die Geschichte der Kunst einem jungen Publikum nahe zubringen." (Verlagstext) 

Einfach nur zauberhaft!


Das Erwachsenen-Pendant dazu: Den Streifzug durch die Kunstgeschichte mit dem gleichen Autoren-Duo David Hockney und Martin Gayford (rechts) findet ihr hier. Ebenfalls eine sehr empfehlenswerte Lektüre: informativ, reich bebildert und leicht verständlich.



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