Wer bin ich und was macht mich aus? Fragen, die uns alle und Jugendliche noch mehr als Erwachsene beschäftigen. Als ich zum Halbjahr vier neue Mittelstufenklassen übernahm - eine 8., zwei 9. und eine 10., - beschloss ich, sie in unseren ersten zwei Doppelstunden Steckbriefe gestalten zu lassen. Eine Win-Win-Situation: Sie konnten dabei ihre Vorlieben und Abneigungen reflektieren, sich künstlerisch dazu positionieren, ihre iPad-Kompetenzen auf Vordermann bringen und ich lernte so spielerisch die vielen neuen Schüler etwas besser kennen.
Als Inspiration diente uns der Steckbrief der Illustratorin und Designerin Katharina Netolitzky (unten), den sie kurz zuvor auf Facebook gepostet hatte, als eine Art Fingerübung. In ihrem Beitragstext dazu hatte sie geschrieben, dass der Steckbrief zwar etwas älter ist, dass sich aber an ihren Vorlieben und Abneigungen in den letzten zehn Jahren nichts geändert hat. Katharinas Statement war für mich eine zusätzliche Motivation gewesen, mich mit meinen Schülern an diesen Steckbrief-Projekt zu wagen. Später würden sie als Erwachsene darauf zurückschauen und abgleichen können, inwiefern sich ihre Persönlichkeit seitdem verändert hatte, und welcher Teil davon konstant geblieben war.
Oben: der phänomenal kreative, mit dem iPan freigezeichnete (!) Steckbrief von Sarah H. (9c); unten: die Inspiration für dieses Projekt: Steckbrief der Illustratorin Katharina Netolitzky
Weil es eigentlich nur ein kleines Warmup-Projekt werden sollte, hatte ich ursprünglich geplant, alle Steckbriefe am iPad gestalten zu lassen. Die Wahl der Layout-App habe ich dabei den Schülern überlassen, zumal ich ihnen eh nicht helfen konnte: Als ein bekennende Nicht-Digital-Native konnte ich sie zwar bei Bildaufteiluung, Farben und Schriften beraten, nicht aber die handwerklichen iPad-Tricks vermitteln. Aber das machte nichts: Ihc habe schon bei früheren Projekten die Erfahrung gemacht, dass Schüler sich wunderbar zu helfen wussten und mehr voneinander und aus YouTube-Tutorials lernten, als von einem so gut fortgebildeten Old-School-Lehrer (s. dazu auch meinen Beitrag zum Geldschein-Layout unter diesem Link).
Digital oder analog, das war hier die Frage: links Andreea V. (10a), rechts Pia H. (9c)
Allerdings wünschte sich in jeder Klasse eine Handvoll Schüler, analog arbeiten zu dürfen, und diesen Wunsch wollte ich ihnen erfüllen, arbeitete ich doch selbst viel lieber mit haptisch erfassbaren Materialien. Dieses analoge Gestalten war am Ende nur einer der vielen Gründe, warum unser Steckbrief-Projekt doch keine zwei, sondern eher vier-fünf Doppelstunden in Anspruch genommen hatte. Zum Teil lag es am übermäßigen Ehrgeiz einzelner Schüler: Obwohl ich von vorneherein erklärt hatte, dass anatomische Richtigkeit bei diesem Projekt nicht im Fokus stand, da sie den Rahmen endgültig gesprengt hätte, und dass nach Fotos durchgepauste Figurenumrisse vollkommen ausreichend waren, wollten es sich viele Schüler nicht nehmen, ihre Figur doch noch freihändig zu zeichnen. Kein Wunder, dass sie Doppelstunde um Doppelstunde daran feilten!
Die Vorderseite des Steckbriefs war Pflicht, die Rückseite (der eigene Schulranzen samt Inhalt) konnte man gestalten, wenn man noch Zeit hatte. Pia W., 10a, hatte dafür Zeit gefunden.
Aber in erster Linie lag diese zeitliche Verzögerung daran, dass ich deutlich länger die Layout-Grundlagen behandeln musste, als ursprünglich geplant. Denn es zeigte sich, dass sie noch nie zuvor behandelt wurden, zumindest nicht kriteriengeleitet. Also sprachen wir im Plenum über das bewusste Ausrichten von Textblöcken und Bildern entlang eines zuvor angelegten Hilfslinien-Rasters, über den gleichbleibender Abstand von Objekten zum Rand, über Symmetrien, Farbkonzepte, Farb-, Form- und Größenkontraste, Fernwirkung, Lesbarkeit, Schriftarten ...
Wer sich selbst an einem Steckbrief nach Katharina Netolitzkys Vorbild versuchen möchte: hier ist mein Leitfaden dazu:
Mein Steckbrief: Yays und Nays
1. Grundsätzlich kannst du selbst entscheiden, ob du deinen Steckbrief analog oder digital gestalten möchtest.
2. Fasse in einer Mindmap stichwortartig zusammen, was du magst und was nicht. Das eine wird auf deinem Steckbrief links, das andere rechts aufgeführt. Notiere nur die Dinge, bei denen es dich nicht stören würde, dass andere es erfahren!
3. Gliedere den Steckbrief in mindestens vier Bereiche ein: in der Mitte eine freie Fläche für deinen beinah formatfüllenden Avatar; oben, links und rechts werden Textfelder platziert: farbig unterlegt, mit einem Rahmen versehen oder nur mit Hilfe von Hilfslinien gekennzeichnet (s. unten).
4. Sowohl die Figur in der Mitte als auch alle Textfelder sollten der Harmonie wegen zentriert ausgerichtet sein. Dazu sollte ein imaginärer Rahmen freigehalten werden (ca. 1 cm umlaufend) und die Textblöcke untereinander bündig ausgerichtet sein (der Querbalken oben mit den senkrechten Textbalken rechts und links abschließen). Zur Ausrichtung einzelne Elemente ist es hilfreich, ein Raster einblenden zu lassen (iPad) oder sich mit Bleistift ein paar Hilfslinien einzuzeichnen, die man später radiert.
4. Solltest du Lust und Zeit haben, kannst du ein fünftes Feld unten einzeichnen, in welches persönliche Gegenstände, die dich charakterisieren, stilllebenartig eingezeichnet werden. Diese können von deinem Schreibtisch, deiner Pinnwand oder auch aus deiner Schultasche stammen. Realistische Größenverhältnisse sind dabei zu vernachlässigen, sonst werden einige Motive zu klein.
5. Suche eine stehende Ganzköperfigur, die du im Folgenden als deinen Avatar individualisieren kannst. Du darfst sie durchpausen (zum Beispiel nach einem Foto von dir) oder auch freihändig zeichnen.
6. Thema Farbe: Überlege dir einen Farbkonzept, der entweder auf starke Kontraste oder auf Harmonien (Farbmodulation) setzt. Auch eine schwarz-weiße Gestaltung ist denkbar, wenn sie zum Konzept deines Steckbriefes passt und dessen Fernwirkung und Lesbarkeit nicht beeinträchtigt.
Oben: Minions-Avatare, mit Buntstiften ausgeführt von Nilay B. (10a). Unten: Weniger ist mehr! Elias R.-W. (9c) und Ella S. (9b) haben sich bewusst gegen eine bunte Ausführung entschieden.
Am Ende wurde diese Steckbrief-Übung deutlich theorielastiger als ursprünglich geplant. Dafür hatten wir gemeinsam Beurteilungskriterien erarbeitet, welche später für die Transparenz der Benotung wichtig wurden. Und auch bei dem darauffolgenden Projekt, den ABC-Bildern, bei welchen analoge Bilder und Schriftzüge zu einer komplexen Gesamtkomposition verknüpft wurden (der Bericht dazu folgt) kam uns diese Vorarbeit sehr zugute. Und auch die Schüler fanden das Arbeiten an ihren Steckbriefen sehr unterhaltsam - und lernten ihre Mitschüler von einer ganz neuen Seite kennen. Unten zeige ich - mit Einverständnis der Schüler und so weit anonymisiert, wie von ihnen gewünscht - the Best Of unserer Steckbriefe. Neben ihrer ästhetisch sehr abwechslungsreichen und individuellen Gestaltung haben mich die Vorlieben und Abneigungen der Schüler begeistert. So viel sei schon mal verraten: Respekt scheint für viele eine zentrale Rolle zu spielen, und der Broccoli scheint der unumstrittene Endgegner zu sein.
Viel Spaß beim Schauen!
Unsere Schülerschaft ist sehr international! Links: ukrainische Schülerin Sofiia K.; rechts Diyana K. (beide in der 9b)
Weitere digital erstellte Steckbriefe der 8c, 9b, 9c und 10a, zum Vergößern bitte anklicken
... und natürlich dürfen auch die analog gestalteten Steckbriefe derselben Klassen nicht fehlen!
Nie ohne meine Louis Vuitton! Die mit iPan handgezeichneten Logos der Tasche (hier: ein Steckbrief-Detail) hatten Selin C., 9b, Stunden gekostet. Aber was muss, das muss!
Ein großes Dankeschön an alle Schülerinnen und Schülern der 8c, 9b, 9c und 10a des Ratsgymnasiums Stadthagen (2023) fürs Mitmachen! Auch wenn nicht alle Steckbriefe hier veröffentlicht werden konnten, waren sie alle kreativ, originell und extrem spannend zu lesen!
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