Gegeben sei: ein gigantischer Kunst-Leistungskurs (27 Mann), eine winzige Kunstlehrerin, 4 Monate Zeit und ein Semesterthema, das es in sich hatte. "Arbeit und Freizeit," hieß es sinngemäß, was an sich schon spannend klang. Aber es kam noch besser: Erstmalig in der Geschichte des Landes Niedersachsen stand Banksy auf dem Programm. DER Banksy, der mit seinen sozialkritischen Graffitis das Establishment in den Wahnsinn treibt. Der seine frisch versteigerten Kunstwerke vor laufender Kamera schreddert. Und der trotz seiner enormen öffentlichen Präsenz immer noch unter dem Radar läuft. Die 27 Schüler waren auf Anhieb begeistert. Ja klar, machen wir Graffiti, was sonst?!
Evelin K. (oben) und Pia K. (unten)
So weit, so gut. Jetzt fehlte nur noch eine passende Wand. Gemeinsam streiften wir übers Schulgelände: Alle Sinne waren geschärft, der Kurs im Jagdmodus. Wie in Jurassic Park schweifte sein Blick umher auf der Suche nach einer geeigneten Beute. Schließlich blieb er auf einer Doppelgarage hängen. Die Pupillen weiten sich: Der verwitterte Fertigbau passt gut in sein Beuteschema - und auch zu seinem Semesterthema. "Arbeit und Freizeit": Während ein Teil der Garage als Hausmeister-Werkstatt fungiert, werden im anderen Teil Spielgeräte aufbewahrt. Laufstelzen, Hula Hoops, Bälle: alles, was die Schülerherzen höher hüpfen lässt – und die Schüler gleich mit.
Geeigneter konnte ein Gebäude kaum sein, zumal seine vier Seiten genug Platz boten, um sich darauf mit 27 Leuten auszutoben. Wer jetzt noch Bedenken anmeldete (in mir zum Beispiel rührten sich welche), hatte bloß kalte Füße. "Nothing's gonna stop us now": Graffiti-Erfahrung? Fehlanzeige. Arbeiten im Großformat? Nie gemacht. Mit 27 Personen ein gemeinsames Konzept erstellen? Wird schon werden. Die Fallhöhe war hoch, der Platz auf dem Pausenhof maximal exponiert, die ganze Schulgemeinschaft schaute zu. Was sollte da noch schief gehen?
Inhaltsverzeichnis: Wenn es schnell gehen soll
(einfach draufklicken)
3. Konzept 3.1. Bestandsanalyse
3.2.1. In Gedenken an Max 3.2.2. Die zwei Tore 3.2.3. Ball, David 3.2.4. Die Muschel 3.3. Das finale 3D-Modell
Es konnte nur besser werden: die Doppelgarage in ihrem Urzustand
Vier Monate später: Unmöglich, alle Irrungen und Wirrungen dieses Projektes zu rekonstruieren, also werde ich es gar nicht erst versuchen.* Es folgt: eine kursorische Fotodokumentation unseres XXL-Vorhabens, das mit einer monatelangen, zähen Konzeptphase begann und mit einer fulminanten Materialschlacht endete. Immer mit dabei: das pralle Schulleben. Von wegen "Kurz vor den Sommerferien werden nur noch Spiele gespielt und Filme geguckt"! Vom Abistreich über Projekt- und Wandertage, Sportfest, Theaterproben, Berufsorientierung und schließlich Zeugnisausgabe, das alles durften wir im Auge des Orkans hautnah und in bester Tonqualität erlebt. Und selbst in den Ferien war noch lange nicht Schluss. Um das akustische Spektrum Schule abzurunden, trafen wir uns auf dem stillen und vollkommen verlassenen Pausenhof, um dort zehn weitere Stunden am Stück zu schuften, bis das Graffiti seine finale Form annahm: "Can't stop the feeling"...
Materialschlacht im vollen Gang. Danke unserem großartigen Hausmeister-Team, das dieses Chaos vor und in der Garage tagelang geduldig ertragen hatte.
1. Wozu dieser Beitrag?
Im Folgenden soll in erster Linie die unglaubliche Leistung meines Kurses gewürdigt werden. Trotz Wind und Wetter, im Wettlauf gegen die Zeit und mit viel Kreativität und persönlichem Einsatz hatten sie vier großartige Wandgemälde erschaffen, die motivisch, stilistisch und farblich einen großen Bogen spannen und doch ein in sich geschlossenes, mehransichtiges Graffiti-Objekt ergeben. Wir alle hatten uns weit aus unserer Wohlfühlzone herausgelehnt – und dieses Wagnis hatte sich gelohnt. Ein riesiger Dank also an alle, die an diesem einzigartigen Projekt mitgewirkt haben!** Ihr habt unsere Schule zu einem schöneren Ort gemacht – und mit ihr ein Stück weit die ganze Welt.
Nele Z. (oben); Evelin K. und Jolin N. (unten)
Zusätzlich zur reinen Projektwürdigung und -dokumentation soll dieser Beitrag dazu dienen, das Medium Graffiti aus der Sicht eines Laien zu reflektieren. Denn rückblickend hätte ich mir gewünscht, einen solchen Bericht gelesen zu haben, bevor ich mich in dieses Abenteuer gestürzt hatte – ziemlich naiv und etwas größenwahnsinnig, wie sich herausstellen sollte. Aus diesem Grund habe ich hier alle unsere Erfahrungen sowie die Expertise von Graffiti-Künstlern wie #Kartel und #Steinmetz, die Ergebnisse meiner Internet-Recherche und die vielen Tipps von graffitiaffinen Schülern und Kollegen zusammengetragen. Möge dieser Beitrag all denen, die sich an dieses Medium heranwagen wollen, den Rücken stärken und den Einstieg erleichtern! Es lohnt sich. Das großformatige Arbeiten, die leuchtenden Farben, die Sichtbarkeit der Bilder im öffentlichen Raum und ja, auch der unerwartet sinnliche Akt des Sprühens als solcher haben uns begeistert. Just do it! Es wird euch gefallen, versprochen.
* Zu diesem Projekt haben Herr Professor Heinen, Bergische Universität Wuppertal, und ich eine Publikation geplant. Um dieser nicht vorzugreifen, werden alle Überlegungen zum bildrhetorischen Produktionsprozess (s. Arbeitsauftrag, 2.3.) hier ausgeklammert.
** Mein Dank gilt sowohl den 27 Schülerinnen und Schülern des Kunst-LKs als auch unseren wunderbaren Hausmeistern, die uns tatkräftig unterstützt und unsere Invasion stoisch ertragen haben; ein großer Dank an unsere Schulleitung, die von Anfang an hinter uns stand, trotz steigender Kosten und abenteuerlicher Arbeitszeiten; danke an alle Mitschüler, die uns beim Abkleben, Abschleifen, Streichen und Schleppen geholfen haben; schließlich danke ich allen betroffenen Eltern und anderen Familienangehörigen, die auf ihren kreativen Nachwuchs so oft verzichten, ihn zu Unzeiten fahren, mit Broten versorgen, gelegentlich trösten und sehr oft loben mussten.
1.1. Das (fast) fertige Werk
1.2. Typisch Schule: Das kannst du dir nicht ausdenken!
Die Schule ist ein sehr lebendiger Ort, und nirgendwo erfährt man es unmittelbarer als auf dem Schulhof. Unsere Graffiti-Erfahrung zeigte: You never spray alone. Im Verlauf der letzten zwei Projektwochen waren die Schüler nicht nur im Dauereinsatz, sondern auch unter Dauerbeobachtung. Herr Professor Heinen*, der das Projekt bis dahin aus der Ferne begleitet hatte, kam am vorletzten Schultag persönlich vorbei, um uns tatkräftig zu unterstützen. Davor besuchten uns die Schaumburger Presse, Schüler, Kollegen, sogar Eltern und Nachbarn schauten uns über die Schulter. Die Überreizung am Abend konnte man manchmal nicht in Worte fassen.
Und dann, eines Morgens, tauchten auf unserer frisch gestrichenen schwarzen Wand künstlerisch wenig ambitionierte, dafür aber leicht eingängige Motive auf (Bild weiter unten). Offenbar herrschte auf dem Pausenhof selbst nachts reger Betrieb. Sobald der erste Ärger verflogen und die Kritzeleien weggewischt waren, legte ich den Vorfall zu den "Typisch Schule"-Akten: So etwas konnte man sich nicht ausdenken, es passierte hier einfach. Auch andere teils ärgerliche, teils witzige Ereignisse brachten unsere Pläne immer wieder durcheinander. Hier war kein Tag wie der anderer, und man fuhr am besten, wenn man ihn nicht zu genau plante. Am Ende kam eh alles anders, oft sogar besser als erhofft, und wenn nicht, dann wurde man zumindest glänzend unterhalten.
Besuch von Herrn Heinen, von der Presse und von mehr oder weniger interessierten Mitschülern
Nachdem ausrangierte Schulbücher im Container gelandet waren (We don't need no education), realisierten wir, dass er viel zu nah an der Wand stand. Da half nur eins: geballte Manpower.
Anstrich trotz Abistreich: Am Morgen, an dem wir mit dem Sprühen beginnen wollten, fanden wir die Schule verändert vor. Über Nacht hatten die frisch gebackenen Abiturienten das ganze Schulgelände unpassierbar gemacht, Stroh verstreut, Absperrungen eingerichtet, Wasserpistolen geladen, große Musikboxen auf "unserer" Garage aufgebaut ... Abistreich eben. Mit viel gutem Zureden konnten wir die nicht mehr ganz so nüchternen Abiturienten dazu bewegen, ihre Zelte 20 Meter weiter aufzuschlagen. Das taten sie auch – und beschallten uns dafür den ganzen Tag mit ohrenbetäubenden Schlagern. Doch so richtig lauschig wurde es erst, als sich ein Grillwagen dazugesellte. Grillgeruch, Sonne, "Die schöne Layla" in Dauerschleife und die riesige Schülerschlange, die hinter der Abi-Bratwurst anstand (Bild unten im Hintergrund): So kann ein Kunst-Außeneinsatz auch laufen.
Neben bunten Schuhen und gesprenkelten Kleidern durften wir eines Morgens ein besonders prächtiges Exemplar von Vandalismus vulgaris erleben. Zum Glück war Kreide abwischbar.
Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Wetter-Apps. Meine hatte für unseren Projektauftakt Regen vorhergesagt, und so kam es dann auch. Eigentlich hatte ich geplant, im Trockenen an den Schablonen weiterzuarbeiten. Doch ich hatte meine Pläne ohne meine Schüler gemacht. Wofür hatte man schließlich Regenjacken und einen überdachten Fahrradunterstand?
2. Vorbereitung
2.1. Ideensuche
Das Semesterthema 2022/2 lautete "Arbeit und Freizeit", also hatte der Kurs zur Einstimmung Mindmaps und Moodboards zu den beiden Begriffen erstellt. Im Laufe der Zeit hatte sich unser Fokus auf den Kerninhalt "Freizeit" verlagert - vom Thema "Arbeit" hatten wir schließlich im Alltag schon genug.
Mindmaps, Moodboards und Timelines aus den Reflexionen von Pauline I., Jule M., Evelin K. (3x), Henrike P. und Julia H.; zur vollen Ansicht bitte auf die Bilder klicken.
2.2. Arbeitsauftrag, Phase 1: Erstellung individueller Konzepte
In Zusammenarbeit mit Herrn Professor Heinen* erstellt; kann gern heruntergeladen werden!
Projektreflexion von Jule M.; weitere Reflexionen im Beitragverlauf
2.2. Analoge Skizzen
Zuerst hatten Schüler vollkommen ergebnisoffen alles skizziert, was ihnen unter die Augen kam. Dadurch sollte überprüft werden, ob der bildrhetorische Produktionsprozess, wie er seit der Antike beschrieben wurde, heute noch seine Gültigkeit hatte (s. Arbeitsauftrag). Um die Kreativität der Schüler anzukurbeln (und weil das Wetter Ende März so schön war), gingen wir an einem Freitag Eis Essen... äh, ich meine zeichnen. Der pittoreske Marktplatz von Stadthagen aus der Epoche der Weserrenaissance bot dafür eine filmreife Kulisse. "So jung kommen wir nicht mehr zusammen," hatte ich diese denkwürdige Aktion genannt (und sie im Kursheft zu einem mehrdeutigen SJKNMZ abgekürzt). So wurde der Grundstein zur riesigen Motivsammlung gelegt, aus der wir später gemeinsam schöpften.
Bleistiftzeichnungen von Hanna P.; 25.03.2022: "So jung kommen wir nicht mehr zusammen"; Zeichnungen von Andrei S., Jolin N. und Jannis Z.; Gruppenbesprechung der Ergebnisse
2.3. Besuch des Graffiti-Künstlers #Kartel
Zur Vorbereitung unseres Graffiti-Projekts hatten wir einen Experten ins Boot geholt: An einem Donnerstagnachmittag besuchte uns der Graffiti-Künstler Eugen alias #Kartel (auf Instagram hier zu finden). Eugen schaute sich die Beschaffenheit unserer Garage an und versorgte uns mit Tipps zum Sprühen und zur Umsetzbarkeit einzelner Motive.
Dieser Besuch war für den Kurs ein wichtiger Input gewesen, was nicht nur an Eugens eindrucksvollen Graffitis, sondern auch an der Arbeitsmethode lag: Anstatt ewig zu brüten und zu planen, nutzte er den Drive eines Spontaneinfalls und ließ sich davon tragen. Das erhöhte den Fun-Faktor, beugte Kopfschmerzen vor und sorgte für originelle Bildideen: eine Win-Win-Win-Situation.
2.4. Digitale Entwürfe: Auf der Suche nach der verlorenen Form
Der Besuch von #Kartel hatte deutlich gemacht: Weniger war auch bei Graffiti mehr. Einerseits erzeugt die formale Reduktion eine stärkere Fernwirkung, andererseits war sie technisch leichter zu realisieren als unsere viel zu detaillierten Entwürfe. Einige Schüler hatten ihre Bleistiftskizzen daraufhin auf iPads überarbeitet und in klare, monochrome Farbfelder eingeteilt. Ebenfalls von #Kartel inspiriert: die bewusst eingeschränkte Farbpalette sowie die spielerische Einbeziehung von Negativformen, wie sie sich auf vielen Entwürfen wiederfanden.
Oben: Street Art von #Kartel (Faust-Gelände in Hannover, Foto @Volker Kemmling); unten: digitalisierte Skizze von Evelin K., zeichnerisch wie farbig an #Kartel angelehnt
Entwürfe von Anett H., Jona S., Helen G., Andrei S., Hannah S., Nina S. und Sanam S.
2.5. Das 3D-Modell der Garage
Gleich zu Beginn des Projekts hatte Maxime F. ein 3D-Modell der Garage erstellt. Im Folgenden hatte es uns sehr gute Dienste geleistet, denn wir konnten darauf immer neue Entwürfe projizieren und auf diese Weise ihre Gesamtwirkung sowie die Übereckansichten überprüfen. Unter 4.5. kann man den finalen 3D-Entwurf einsehen.
3. Konzept
3.1. Bestandsanalyse
Bevor die vielen Skizzen und Ideen in komplexere Wandentwürfe umgesetzt werden konnten, hatten wir eine klassische Ortsbegehung samt Bestandsanalyse durchgeführt. Dabei stellten wir fest: Die vier Garagenseiten waren extrem unterschiedlich und brachten vier völlig verschiedene Problemstellungen mit sich.
I) Die zur Schule ausgerichtete Seite hatte links eine Metalltür, welche die Wand in zwei ungleiche Hälften teilte; dazu lag sie dauerhaft im Schatten und war größtenteils von Müllcontainern verdeckt. Zwar sollten sie wegen Brandschutzgefahr zeitnah woanders aufgestellt werden, doch niemand konnte uns sagen, was "zeitnah" konkret bedeutete.
II) Die Seite, die links daran anschloss, wurde von zwei Garagentoren dominiert. Weil sie zwei eigenständige Querformate bildeten und dazu noch geriffelt waren, gestaltete sich die Arbeit daran als besonders schwierig. Direkt davor befand sich der Hauptausgang zum Pausenhof. Somit war dieser Bereich am meisten frequentiert. Hinter dem linken Tor lagerten die ausleihbaren Spielgeräte, die vor allem bei jüngeren Schülern beliebt waren. So kam die Idee auf, den Fokus unseres Graffitis auf das Thema "Spiel" zu legen.
III) Die Hofseite der Garage war von weitem einsehbar. Theoretisch hätte sie eine starke Fernwirkung haben können, doch praktisch wurde sie links von einem riesigen Metallcontainer überlagert, der auch "zeitnah" weg sollte (suspense, suspense), und rechts - von einem ebenso riesiger Schmetterlingsflieder. Im Herbst wurde der Busch routinemäßig zurückgeschnitten, doch im Sommer erreichte er eine beeindruckende Größe. Weil daran nicht zu rütteln war ("Der Busch bleibt!" hatte der Hausmeister gesagt. "Man kann hier Schmetterlinge beobachten."), hatten wir beschlossen, aus der Not eine Tugend zu machen und eine Komposition zu erarbeiten, die dem Versteckspiel mit dem Busch gewachsen war.
IV) Und schließlich war da noch die Rückseite der Garage. Bei unserer ersten Ortsbegehung konnten wir allerdings nur zwei kleine Oberfenster erkennen. Denn davor türmte sich der Sperrmüll ("Irgendwo muss er ja hin!") und wuchsen meterhohe Brennesseln ("Vorsicht, Zecken.") Der Ort war derart dunkel und unpassierbar, dass sofort der Plan gereift war, ihn maximal aufzuwerten. Aber wie? Die einen schlugen vor, dort den Eingang zu einer imaginären Disco anzutäuschen, die andere wollten neugierige Kinder darauf sprühen, die durch die Fenster spähten, mir schwebte eine romantische Knutschecke vor ... Wir hatten viele tolle Ideen – und dann kam wieder alles anders als gedacht.
Oben: Skizzen von Anett H.
3.2. Vier Seiten, vier Konzepte
Pieter Bruegel der Ältere: Die Kinderspiele, um 1560
Kunsthistorisches Museum Wien (Detail)
Nach und nach kristallisierte sich bei unserer Motivsuche ein roter Faden heraus. Zum einen wollten wir unsere Farbpalette auf die Fassadenfarben der Schule – Ziegelstein-Rot und Dunkelblau – abstimmen. Zum anderen sollte auf jeder Garagenseite mindestens ein Kunstzitat vorkommen: einerseits, um unserem Selbstanspruch als Kunst-LK gerecht zu werden, andererseits, um bei den Mitschülern für einen kleinen Aha-Effekt zu sorgen. Und schließlich hatten wir bei unserem Semesterthema Freizeit den Fokus aufs Spiel verlegt. Schließlich handelte es sich bei der Garage um einen Spielgeräteverleih, der sich obendrein mitten auf einem Pausenhof mit all seinen Spielaktivitäten befand. Die Kinderspiele von Pieter Bruegel dem Älteren (1560; oben: Detail) wären hier ein passendes Kunstzitat gewesen, doch leider hatte das Bild bei den Schülern keinen Wiedererkennungswert, also mussten wir nach etwas Bekannterem suchen.
3.2.1. In Gedenken an Max
Während wir noch an den Konzepten saßen, ereignete sich Ende Mai ein tragischer Unfall: Der Zwölftklässler Max W. verunglückte tödlich mit seinem Motorrad. Seine Freunde, sein ganzer Jahrgang, die gesamte Schulgemeinschaft waren zutiefst erschüttert. Tagelang stand die Schule still. Auch wenn Max nicht in meinem Kunst-LK war, kannten ihn die meisten meiner Schüler seit der fünften Klasse – und ich auch. Die Tage nach dem Unfall befanden wir uns alle in einer Stockstarre. Es war einfach unvorstellbar, dass Max nicht mehr da war. Die Sonne schien, der Frühling war im vollen Gange. Max fehlte.
Oben: Jolins digitale Skizze nach einem Foto von Max
Eines Tages kam Jolin mit einem Vorschlag: Wie wäre es, wenn wir Max auf unserem Graffiti mit abbilden würden? Schließlich sollte es das Abi-Monument des zwölften Jahrgangs werden, und Max war ein Teil davon. Jolins Vorschlag stieß sowohl bei unserem Kurs als auch bei den Eltern von Max auf große Zustimmung. Schnell war klar: Bei aller Tragik sollte Max auf seinem geliebten Motorrad dargestellt werden. Für seine Freunde sowie seine Eltern gehörte es zu Max. Das Biker-Motiv würde für alle, die Max nicht kannten, einen anonymen Motorradfahrer darstellen und sich in das Gesamtkonzept der Freizeitaktivitäten einfügen. Für Max' Freunde aber würde dieses Bild Max in Erinnerung rufen.
Oben: Vincent van Gogh: Sternennacht, 1889, MoMA, New York (Detail); unten: Evelins Entwurf
Wir machten uns ans Werk. Als erstes hatten wir darüber nachgedacht, welche landschaftliche Umgebung und welches Kunstzitat zu diesem emotionalen Thema passen würden. Sie sollten eine melancholische Grundstimmung ausstrahlen und gleichzeitig Weite und Freiheit suggerieren – Gefühle, die Max mit Motorradfahren verband. Im Plenum schlug Kristof vor, die Sternennacht von van Gogh aufzugreifen: ein berührendes Werk mit organischen, kreisenden und vibrierenden Formen und einer dunklen Farbpalette, wie sie dem Anlass entsprachen. Jolin und Evelin, ab sofort unser "Team Motorrad", setzten diese Motive zuerst in Entwürfen und später als Graffiti um. Dabei hatten sie die gelben van Gogh-Sterne sowie die neongrünen "Monsters"-Streifen auf Max' Helm mit phosphoreszierender Farbe ausgesprüht. Sie sollten später im Dunkeln leuchten und an Max und seine lange Reise erinnern.
3.2.2. Die zwei Tore
Die zwei Tore: Das, was wie der Titel eines Fantasy-Blockbusters klang, hatte uns im Vorfeld viel Kopfzerbrechen bereitet. Es fing mit dem komplizierten Reinigen, Abschleifen (!) und Grundieren von Metalloberflächen an; zusätzlich mussten alle Hintergrundfarben extra als Lackvariante angemischt werden. Dann die zweigeteilte Komposition: Einerseits sollten die beiden Querformate miteinander harmonieren, andererseits sollten sie individuelle Lösungen bieten. Und schließlich die Riffelung der Tore, die jede präzise Linienführung erschwerte! Es war zum Verzweifeln.
Dachte ich jedenfalls. In Wirklichkeit hatten wir gerade für diese kniffelige Stelle am schnellsten eine Lösung parat. Ausgehend von unserer Doppelbild-Prämisse hatte Maxime F. Michelangelos Hände als Kunstzitat vorgeschlagen (Gottvater erweckt Adam per Gottesfunken zum Leben, s. unten). Pia K., die zu Hause in Quarantäne festsaß, spielte uns per Teams eine geniale Problemlösung zu: Sie ließ die Riffelung Riffelung sein und funktionierte sie zu Tetris-Steinen um. Maxime visualisierte diese Idee digital - ein weiteres Beispiel für eine gelungene Zusammenarbeit, die übrigens ironischerweise genauso kontaktlos und Corona-konform abgelaufen war wie bei Michelangelo.
Wie alles begann: Aus der Bildidee von Maxime F. (feat. Michelangelo; oben) und dem Tetris-Vorschlag von Pia K. ist das rechte Tormotiv entstanden
Das rechte Tor stand also fest; jetzt brauchten wir eine Lösung für das linke. Tetris gehört zu den ältesten Computerspielen überhaupt und ist heute noch populär. Nun sollte als Pendant dazu ein älteres analoges Spiel her, das heute denselben Kultstatus genießt. Die Wahl fiel auf das Spiel "Vier gewinnt" (oben). Doch kurz vor der finalen Umsetzung zauberte Andrei S. eine Alternative aus dem Hut. Seit unserer ersten Skizzenbesprechung geisterte "sein" Spiderman durch unsere Konzepte (vgl. 2.2.). Zwischenzeitlich schien er vergessen – doch nicht mit Andrei! Mit ein paar Klicks und etwas Farbe hatte er die Hand von Adam in die von Spiderman verwandelt und sie um eine Schachfigur ergänzt. Andreis Sitznachbarn waren sogleich inspiriert; gemeinsam sponnen sie an der Spinnenmann-Idee weiter, bis uns mehrere Tor-Varianten vorlagen. Am Ende wählten wir aus den vielen denkbaren Schachfiguren die des Bauern, stand sie doch stellvertretend für viele weitere analoge Spiele. Nun reichten sich auf unseren zwei Toren das analoge und das digitale Zeitalter die Hände – wenn das kein Fantasy-Blockbuster war!
Oben: Maxime beim Sprühen; unten: Spiderman-Variationen von Andrei S., Nele Z., Sanam S. und Jannis Z. (x2)
3.2.3. Die Hofseite: Gamechanger Ball und Playboy David
Sanam S. und Ömer B. finalisieren den Ball, den Anett entworfen, das Jungs-Team skizziert und vorgrundiert und Paul T. schließlich gesprüht hat: eine echte Teamarbeit.
Zum Gamechanger unserer Konzeptphase wurde der überdimensionierte Ball, den ein Schüler im Netz gefunden und im Plenum vorgestellt hatte (Bild unten). Vorher waren die meisten Schülerskizzen stark umrissbetont, überladen, perspektivisch und proportional zwar schlüssig, aber gerade deswegen recht konventionell. Der formatfüllende Ball hatte wortwörtlich neue Maßstäbe gesetzt. "Think big", lautete ab sofort die Devise: Zwar blieben einzelne Motive weiterhin naturalistisch, doch ihre scheinbar beliebige Anordnung auf der Fläche und ihre teils riesenhaften Dimensionen (Ball ca. 3 Meter ⌀; David: 2,20 m von Kopf bis Wade) wirkten nun collagenhaft und surreal.
Dabei sollte sich später herausstellen, dass unser Gamechanger einem Missverständnis zu verdanken war: In Wirklichkeit hatten wir keinen formatfüllenden Ball, sondern nur eine Detailaufnahme aus einer überladenen und comichaften Komposition gesehen, wo der Ball nur eine Statistenrolle spielte (s. Link).
Ob Missverständnis oder glückliche Fügung, der Ball hatte unser Projekt maßgeblich geprägt. Während andere Motive später kamen und gingen, blieb er bis zum Schluss fast unverändert. Zum einen, weil er stellvertretend für unser Thema "Freizeit & Spiel" stand und einen klaren Ortsbezug zum Pausenhof und seinen Ballspielen herstellte. Zum anderen, weil er bestens mit unserem Endgegner, dem Busch, interagierte. Selbst im Sommer konnte er sich gegen ihn als Sieger durchsetzen; für die Zeit nach dem Buschrückschnitt im Herbst versprachen wir uns eine noch spannendere Spielsaison.
Oben: Ein Netzfund, der zum Gamechanger wurde (s. Link). Unten: digitale Entwürfe von Evelin